Interkultureller Dialog

Was ist typisch argentinisch, was typisch deutsch? Wie sehen Lateinamerika und Europa aus der jeweils andere Sicht aus? Die Beiträge dieser Seite versuchen eine Antwort darauf.

1 Die ZEIT Die lateinamerikanische Hoffnung 2 Wolfram Fleischhauer: Drei Minuten mit der Wirklichkeit

1 Die lateinamerikanische Hoffnung

Von Constantin von Barloewen | © DIE ZEIT, 01.05.2008 Nr. 19

Südamerika sucht neue Antworten auf die Globalisierung. Deshalb könnte Europa von seinen alten Kolonien für die Zukunft lernen.

Lateinamerika ist überraschend zu einer politischen Werkstatt in der Weltzivilisation geworden. Seit in immer mehr Ländern linksorientierte Regierungen an die Macht gekommen sind, zuletzt der frühere Bischof Fernando Lugo (<< Foto) in Paraguay, wird zumindest deutlich, dass der Kontinent neue Antworten auf die Globalisierung sucht – andere Antworten als das kommunistisch-kapitalistische Regime in China und andere auch als Indien, das sich dem westlichen Fortschrittsbegriff verschrieben hat. Die neuen politischen Bewegungen Lateinamerikas ragen für die Kritiker wie ein Anachronismus, für andere aber wie ein Fels der Hoffnung aus der kapitalistischen Weltgesellschaft heraus.

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2 Fleischhauer: Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Der Autor Wolfram Fleischhauer bietet in seinem Roman "Drei Minuten mit der Wirklichkeit" einen beeindruckenden Kulturvergleich "Deutsche - Argentinier". Hier ein Auszug (S. 100ff):

"... Er hatte von der Stille erzählt, die ihn beeindruckt hatte. Die Stille in den Häusern, das Schweigen in den Bussen, die Ruhe in den Parks. Was man in einem Berliner Park erleben konnte, war geradezu unbeschreiblich. Wie die Menschen sich kleideten, und vor allem wie sie sich öffentlich entkleideten. Er hatte in Buenos Aires schon davon gehört, dass man in Berlin nackt in Parks herumlag, aber er hatte es sich trotzdem nicht vorstellen kön­nen. Nachdem er es mit eigenen Augen gesehen hatte, verstand er, warum. Offenbar hatte hier niemand Angst davor, sich lächerlich zu machen.

»Die Menschen hier haben ihr Schamgefühl an einer anderen Stelle.«

    »Wie meinst du das?«

»Es ist ihnen peinlicher, etwas Dummes zu sagen, als dumm auszusehen. Bei uns ist das umgekehrt. Am Kreuzberg zum Beispiel. Da lag ein junger Mann nackt in der Sonne. Nach einer Weile war die Sonne weitergewandert, und er lag im Schatten. Er stand auf, zog ein T-Shirt an, aber keine Unterhose. Er ging zwanzig Meter weiter, breitete seine Sachen aus, zog das T-Shirt wieder aus und legte sich wieder hin. Ein Argentinier würde sich eher erschießen lassen, als mit Hemd und ohne Unterhose durch einen Park zu laufen.«

Giulietta kicherte.

Er erzählte ihr, was ihm alles aufgefallen war. Dass die Leute ungeniert auf der Straße Würste und Pommes frites in sich hineinstopften, auch wenn ihnen dabei der Senf oder die Mayonnaise über das halbe Gesicht tropfte. Wie kitschig viele Läden eingerichtet waren. Dass in einem hoch technisierten Land noch Wohnungen existierten, die über keine eigene Toilette, sondern nur über ein Außenklo verfügten. Eine Wohnung ohne ein eigenes Bad? Mit Kohleöfen beheizt. In der Hauptstadt eines der reichsten Länder der Erde. Das hätte er sich früher einfach nicht vorstellen können. Genauso verwunderlich war es aber, dass die Leute sich an Verabredungen hielten und das auch von den anderen erwarteten.

»Ist das bei euch nicht so?«

 »Nein, jeder hat immer mehrere Verabredungen gleichzeitig.«

»Und wenn zwei Termine gleichzeitig klappen?« »Das passiert ständig. Dann sagst du einen ab. Das machen alle so, deshalb musst du immer eine Ausweichverabredung haben.«

Und er erzählte von der Erfahrung, die ihn am meisten beeindruckt hatte: eine U-Bahn-Fahrt in einem Waggon voller zurückkehrender Fußballschlachtenbummler. Dies war überhaupt der Gegensatz, der ihn am meisten beschäftigte: das Nebeneinander von bewundernswürdig hoher Entwicklung in manchen Bereichen und verblüffender Nachlässigkeit in anderen, manchmal an ein und derselben Person. Die gebildeten, selbstbewussten Studentinnen mit behaarten Beinen und Achselhöhlen. Die reinliche, pünktliche, durchorganisierte Berliner U-Bahn und das Heer von rülpsenden, grölenden und spuckenden Fußballkretins, die einen an die Zeit erinnerten, als ganz Europa vor den germanischen Stämmen erzitterte. Der Geschäftsmann, der aus einem Achtzigtausend-Mark­Mercedes aussteigt und einen Zweihundertfünfzig-Mark­Anzug trägt. Die siebenundsechzig Brotsorten und der ungenießbare Einheitskaffee. Die allgegenwärtige Sorge über die Pflege der Natur, der Umwelt, die vierfache Mülltrennung dazu die Vernachlässigung der Körperpflege bis hin zur grotesken Verunstaltung der eigenen Erscheinung durch zerstochene Nasen oder Augenbrauenringe ..."

Charlotte Roche, halbstolz mit Achselhaaren


© 2007-2008 Michael SeegerHeide Walb, Buenos Aires, update 24.05. 2008  mail an organisator